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Mein Zweitblog
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08.12.2010


Am 21. August 1897 hatte Felix Hoffmann, ein Chemiker von Bayer, in seinem Labor die Substanz Diacetylmorphin zusammengemischt. Davon versprachen sich seine Chefs allerhand – sie sahen in ihr einen Ersatz für das abhängig machende Schmerzmittel Morphin. Als Fische, Meerschweinchen und Katzen das neue Mittel schluckten und überlebten, mussten Werksangehörige und ihre Kinder ran. Tote gab es nicht, Süchtige auch nicht, und kaum ein Jahr später brachte der Konzern das Mittel – unter Verzicht auf gründliche klinische Tests – auf den Markt.

Jetzt hieß es “Heroin”, denn diesen Namen hatten sich die Bayer-Bosse für ihre, wie sie fanden, “heroische” Neuentwicklung ausgedacht und schützen lassen. Was nun folgte, ist in der Rückschau eines der bizarrsten Kapitel aus der Arzneimittelgeschichte. Bis in die dreißiger Jahre hinein verkaufte Bayer weltweit hochreines Marken-Heroin. Überall wurde das bis heute unbestritten stark und vielfältig wirkende Mittel gefeiert und als Arznei an Millionen verabreicht. Nur ganz langsam mutierte es zur Dämonendroge.

Der Berliner Mediziner Michael de Ridder, 53, hat in einem neuen Buch nachgezeichnet, wie Heroin auf die Welt, auf den Markt und schließlich auf die schiefe Bahn kam*. Als erstem ist es de Ridder gelungen, in die Bayer-Firmenarchive vorzudringen. Seine Vorgänger hat der Konzern stets abgewiesen, denn an seine Vergangenheit als Heroin-Küche lässt sich Bayer nicht mehr gern erinnern.

De Ridder beschreibt eine staunenswerte Epoche, in der die Welt scheinbar Kopf steht – oder kollektiv high ist. In der guten alten Zeit ist Deutschland der größte Heroinproduzent der Erde. Heroin ist “ein recht schönes Geschäft”, finden stolze Bayer-Direktoren. Und die Mehrheit der Ärzte preist es als wertvolles und sicheres Arzneimittel mit “zauberhafter Wirkung”, hilfreich gegen Husten, Schmerzen und allerhand andere Gebresten. Schulkinder, Gebärende, Polizisten, Alte und Gebrechliche konsumieren Heroin. Sie nehmen es ein als Pulver, Mixtur, Saft oder Zäpfchen, für Frauen gibt es heroinhaltige Tampons. Heroin ist überall und doch: Kaum jemand wird abhängig, keine Secie verfällt der Beschaffungskriminalität, wozu auch: Bayer-Heroin ist in den Apotheken vorrätig, nicht eingewickelt und verpanscht in winzigen Stanniolkügelchen, sondern abgepackt in eleganten Heroin-Flakons oder in Gläsern, die bis zu 25 Gramm fassen – eine Menge, die heute reichen würde für viele Dutzend einsame Tode auf dem Bahnhofsklo.

Was war los mit Bayer und den Ärzten aus dem Kaiserreich? Hielten wirklich alle das Heroin für so harmlos, dass sie es scheinbar ohne Sorge als Hustenmittel schon den Säuglingen einflößten? Haben Bayer-Direktoren gewusst, was die Substanz anrichten kann und dennoch ohne Skrupel ihr Geschäft betrieben? Oder hatten die damaligen Ärzte Recht? Sollte Heroin auch jetzt noch eher als Medikament denn als Droge gesehen werden?

Als die Substanz auf den Markt kam, war nichts ungewöhnlich daran – außer dem durchschlagenden Erfolg: Nach nur einem Jahr verdealte Bayer sein Heroin in mehr als 20 Länder, vor allem in die USA. Schon 1902 fuhr es fünf Prozent des Gewinns in der Pharmasparte ein, und der Absatz stieg rasant – von 45 Kilogramm 1898 auf 783 Kilogramm zehn Jahre später. Weil Bayer kein Patent auf Heroin bekommen hatte (die Substanz war in der wissenschaftlichen Literatur schon bekannt), mischten bald auch andere Firmen im Geschäft mit: Sandoz, Hoffmann-La Roche, Boehringer, Gehe, Knoll und Merck.

Erfolgreich war der Stoff auch deshalb, weil zumindest Bayer am Markt mit der bis heute branchentypischen Brutalität vorging. Carl Duisberg, damals Bayer-Prokurist und noch heute prominent vertreten in der Gedächtnisgalerie der Deutschen, verlangte von seinen Untergebenen, sie sollten ihre Gegner “mundtot schlagen”, wenn diese behaupteten, Heroin sei nicht sicher. Eine kleine Zahl unbeugsamer Mediziner nämlich unterstellte dem Mittel von Anfang an Giftigkeit oder Suchtpotenzial. “Wir dürfen nicht dulden”, bleute Duisberg seinen Forschern ein, “dass in der Welt behauptet wird, wir hätten unvorsichtigerweise Präparate poussiert, die nicht sorgfältig probiert sind.”

Mit Fanfaren und Getöse statt mit sicherem Wissen bahnte Bayer seinem Heroin den Weg. Bayers “starker und straff organisierter Propaganda-Apparat” (de Ridder) ging damals mit nach wie vor aktuellen Branchentricks vor. Unverlangt schickte der Konzern Probepackungen an Mediziner bis nach China. Er versorgte Ärzte mit der aktuellen, jeweils für den Konzern günstig ausfallenden Fachliteratur. Er gab ‘gezielt Studien bei willfährigen Ärzten in Auftrag. In Anzeigen in der “Deutschen Ärztezeitung” forderte Bayer die Mediziner auf, den damals weit verbreiteten Morphinismus doch einmal mit dem “anerkannt vorzüglichen” Heroin zu heilen – schließlich sei Heroin ein Morphinabkömmling, der nicht abhängig mache.

Die Mühen machten sich bezahlt. Die Mediziner verschrieben Heroin, als wären sie selbst süchtig danach. Der Wert des Medikaments werde durch seine “absolute Ungiftigkeit noch gehoben”, urteilte ein Arzt in einer Fachzeitschrift. Ein anderer jubelte, Heroin sei “das sicherste und exzellenteste aller Hustenmittel”.

Doch beim Husten blieb es nicht. Sehr rasch entdeckte Bayer, dass Heroin einfach gegen alles gut war. Seit 1906 riet der Bayer- Konzern zu dringendem Heroin-Konsum unter anderem bei Schmerzen, Depressionen, Bronchitis, Asthma oder Magenkrebs- ein Einsatzspektrum, “das nur wenige der damals bekannten Erkrankungen ausschloss” (de Ridder). Selbst die Gesunden hatten viel Spaß mit Heroin. Alpenclubs empfahlen ihren Mitgliedern, vor einer Tour ins Hochgebirge das Zeug zu schlucken, weil das die Atmung erleichtere. High kamen die Wanderer höher.

Natürlich war die Bayer-Droge auch in den Irrenhäusern zu Hause. Der Mediziner Pastena verabreichte das Mittel im Jahre 1900 an die Insassen der Psychiatrie von Neapel – an “Irrsinnige, Idioten, maniakalische Halluzinanten, Epileptiker, Paralytiker und Delirante”. Pastena verzeichnete “andauernde Beruhigung” und “in einigen Fällen sogar Heilung”. Russische Psychiater rückten mit Heroin “seelischem Schmerz” zu Leibe, polnische Ärzte disziplinierten “extreme Masturbanten”, ein Düsseldorfer Doktor brachte “schmerzhafte Erektionen” zum Abklingen. Heroin war ein Teufelszeug, das offenbar immer half – auch der armen Patientin des Wiener Gynäkologen Mirtl: Sie lag 1899 im Maria Theresia Frauenhospital mit schier unheilbarer “Nymphomanie” – “erst mit Heroin trat die gewünschte Besserung ein”.

An Nebenwirkungen verzeichneten die Mediziner Benommenheit, Schwindel und Verstopfung, sonst nichts. Die Ärzte, die teils schon im Geburtsjahr von Heroin vor seinen starken Suchtgefahren warnten, blieben eine Minderheit. Es galt die Ansicht des Mediziners Grinewitsch, der immerhin 2000 Kranken Heroin eingeflößt hatte: “Ein krankhaftes Gelüste nach dem Mittel” sei nicht zu befürchten.

Diese Aussage steht in krassem Gegensatz zu dem, was die Kinder Jahrzehnte später in der Schule lernen. Warum wurden Heroin-User unter Wilhelm Il. anders als ihre Urenkel nicht abhängig? Was unterschied die Untertanen des Kaisers von Billie Holiday, Charlie Parker, Janis Joplin, River Phoenix und den Kindern vom Bahnhof Zoo? Entscheidend für die ausbleibende Sucht war die damals vorherrschende Art der Heroin-Aufnahme. Die Kranken schluckten nur wenige Milligramm – weniger als ein Zehntel dessen, was sich Fixer spritzen. Oral aufgenommen gelangt es nur langsam ins Gehirn. Einen Flash erlebten die damaligen Konsumenten nicht, wohl aber Schmerzlinderung und mitunter leichte Euphorie. Beides war sehr willkommen. Auf Heroin fühlten sich die Kranken besser an Körper und Seele.

Die Idee, ihre Arznei zu sniefen, zu rauchen oder hoch dosiert intravenös zu spritzen, kam den Leuten nicht in den Sinn. Deshalb blieb Europa, was Heroin-Sucht anging, lange clean: Noch 1920 war den deutschen Medizinalbehörden der Begriff “Heroinismus” völlig unbekannt.

Schneller zur Sache ging es in den USA, dem besten Kunden von Bayer. Die Amerikaner lebten damals ohnehin in einer Art Junkie-Staat. Zehn Prozent aller Ärzte galten als opiatabhängig, mehrere hunderttausend Menschen spritzten sich Morphin, zahllose eingewanderte Chinesen waren süchtig nach Rauchopium. Etwa seit 1910 stiegen viele um auf Heroin. Als sich die Kliniken mit Heroinisten füllten, wurde das Mittel staatlich stärker kontrolliert und seine Verschreibung erschwert. Der Heroin-Handel entwich auf den Schwarzmarkt, die Preise stiegen, die Beschaffungskriminalität auch. Für die Hersteller war dies ein Segen – denn im Untergrundgeschäft machten deutsche und andere Pharmafirmen erst richtig Kasse. Gegen Ende der zwanziger Jahre lag der legale Weltbedarf an Heroin bei zwei Tonnen – hergestellt wurden aber bis zu neun Tonnen im Jahr.

Renommierte Hersteller dealten konspirativ wie die Mafia. Hoffmann-La Roche war eine dieser Schurken-Firmen: Regelmäßig, so de Ridder, lieferte der Schweizer Konzern Drogen an Schmugglerorganisationen. Die Hamburger Polizei deckte Mitte der zwanziger Jahre auf, dass der Schweizer Konzern Heroin, Morphin und Kokain verschiffte und als “harmlose Chemikalien” tarnte. Als Codewort für Ileroin war den Schiebern bei Hofftnann-Laa Roche “Yeaxt” geläufig; “Yamyk” stand für Kokain. Für seine Taten handelte sich der Konzern 1927 eine Verwarnung von der internationalen Opium-Kornmission ein. Voll von Abscheu urteilte der Kommissionsvorsitzende, Hoffmann-La Roche sei einer Lizenz zum Handel mit Betäubungsmitteln nicht würdig.

Nach immer restriktiveren, internationalen Opium-Abkommen kamen die Heroin-Geschäfte von Bayer und anderen Firmen nach 1931 fast gänzlich zum Erliegen. Das bißchen Heroin, das sie noch herstellten, wurde genau überwacht. Heroin war in Ungnade gefallen und aus den Apotheken verbannt. Doch davon, so schreibt de Ridder, haben die Patienten nicht profitiert. Opiate, zu denen das Heroin zählt, vermögen “wie keine andere Arznei Todesangst zu lindern und das Sterben zu erleichtern”, sagt de Ridder. Zu den Opiaten zählen auch die wirkungsvollsten Schmerzmittel. Weil die unverzichtbaren Opiate jetzt insgesamt zu restriktiv gehandhabt würden, müssten Schwerstkranke und Sterbende in Deutschland oft Schmerzen durchstehen, die ihnen mit Leichtigkeit zu nehmen wären.

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